Weihnachten kommt in der Doppelromanhälfte Trollland nicht vor. Eine Welt, die unserer gleicht – mit einigen kleinen Unterschieden. Da stellt sich die Frage: Erklingen dort auch Weihnachtslieder, stellen auch die Trollländer Weihnachtsbäume in ihren Wohnungen auf und legen Geschenke drunter? In der anderen Doppelromanhälfte, Utopion, erfahren wir, dass die Utopie Trollland mit ihren hilfsbereiten Riesenaffen und einer entschleunigten Welt ohne Geld und nennenswerte Verbrechen der Fantasie eines Historikers entstammt, der mit Religion nicht viel am Hut hat.
Zwar zitiert ihn seine Ehefrau so:
Wenn es Gott gibt, spielt er Versteckspiel mit uns. Finden kann man ihn auf zwei Wegen: als Forscher oder als gläubiger Mensch. Die Wege laufen manchmal weit auseinander, treffen aber ganz am Ende vielleicht wieder zusammen.
Dass er das jemals so gesagt haben soll, weist ihr Mann allerdings weit von sich.
Und tatsächlich: In der utopischen Parallel-Zivilisation Trollland gibt es zwar den Glauben an Wiedergeburt („Ist das nicht etwas, an das man eher in Asien glaubt?“) und so etwas wie spirituelle Wesenheiten („Trolle gelten [in Indien] als herabgestiegene Götter. Oder freundliche Dämonen.“). Doch Gesellschaft und Kultur scheinen dort weniger von Religion geprägt als bei uns: Bezeichnenderweise wird bei einer Beschreibung der Skyline von Köln mit keiner Silbe der Dom erwähnt.
Möglicherweise gibt es also keine Kirchen in Trollland – und darüber hinaus womöglich auch kein Christentum, keinen Islam, Hinduismus etc.
Darauf gibt es einen weiteren Hinweis. Erfinder Fabrizius, der Protagonist von Trollland, nennt die Ausführungen einer jungen Frau über das, an was sie glaubt, „krude“, und es heißt dazu:
Fabrizius bezweifelte, dass das, was Jette da so unbefangen von sich gab, irgendeine wissenschaftliche Beweiskraft hatte. Ofenbar gehörte sie jedoch nicht zu den Menschen, die sich zu Glaubensgemeinschaften zusammentaten. Das nämlich war Fabrizius suspekt, auch wenn von denen keine so weit ging, zu behaupten, sie verfüge über die alleinige Wahrheit und wisse die allein seligmachende Antwort auf die großen Fragen.
Hm. Das wird in unserer Welt anders gehandhabt. Ich könnte mir vorstellen, dass die allgegenwärtigen Trolle, die als arbeitswillige und anschmiegsame Riesenaffen geschildert werden, nicht nur Grund dafür waren, dass in Trollland das Rad nie zur Fortbewegung genutzt wurde, dass Kriege geächtet und Geld abgeschafft wurde (weil genug von allem für alle da ist) ...
... sondern auch dafür, dass die Weltreligionen mit alleinigem Wahrheitsanspruch, wie wir sie kennen, nie entstanden sind. Warum? Meine Spekulation dazu: Erstens sind die Menschen in Trollland relaxter und weniger rechthaberisch, und dann mussten sie sich ja auch – dank der dienstbaren Riesenaffen – über Tausende von Jahren hinweg viel weniger Sorgen machen: um ihr Überleben, ihre Altersversorgung und selbst um Schicksalsschläge – der persönliche Trosttroll fing, so gut es ging, Trauer und Angst auf.
Im Gegensatz dazu werden die Utopier auf Thomas Morus’ Insel Utopia als religiös geschildert. Auch wenn Historiker Ralf Kaska das in seinem Vortrag über Utopia vor seinen Mit-Utopionieren ausspart: Morus, gläubiger Katholik (der später deswegen seinen Kopf verlor), erzählt von Tempeln, in denen eine Art Universalgott angebetet wird – hier sind quasi Gläubige aller Art und Provenienz willkommen und versammeln sich unter einem Dach. (Atheisten und Polytheisten werden sich davon vielleicht weniger angesprochen fühlen. Aber für das Jahr 1516 war das eine ungemein fortschrittliche Sichtweise.)
Trollland jedenfalls ist offenbar nicht von großen Weltreligionen geprägt, und die Menschen dort werden Weihnachten eher nicht als religiöses Fest begehen – und schon gar nicht als Konsum- und Geschenketerror. Andererseits wird die persönliche Freiheit großgeschrieben, und die Trollländer feiern gerne. So steht es natürlich jedem frei, Weihnachten auf die eigene Weise zu zelebrieren (und, falls gewünscht, den Trollen dazu Weihnachtsmützen aufzusetzen) …