Wer die Utopion/Trollland-Ausgabe in der Hand hatte, weiß es: Bevor der eigentliche Doppelroman beginnt, ist ein unausgepacktes Geschenk zu sehen (eines der Piktogramme vom Buchrücken), begleitet von einem Vorsatztext:
„Fremder, wer du auch bist, öffne es,
auf dass dich die Wunder bereichern mögen.“
Eine Art Motto mit Aufforderung also – wie gesagt nur vor dem Doppelroman, nicht in den Einzelausgaben. Cory hat uns Herausgebern gegenüber diesen Vorsatzspruch nie erläutert, und ich hatte immer schon das Gefühl, dass etwas Besonderes dahinterstecken müsste. Gibt es da, zu Thomas Morus zum Beispiel, irgendeine mysteriöse Verknüpfung?
Ein solcher Leitgedanke, der einem Roman vorangeht, ist oft ein Zitat. Auch in diesem Fall? Ja. Denn irgendetwas hat mich heute auf den Gedanken gebracht, danach im Internet zu suchen. Gestoßen bin ich dabei auf einen antiken Text.
Im ersten, zweiten oder dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die Gelehrten streiten sich, hat ein gewisser Antonius Diogenes (nicht der Diogenes mit der Tonne) einen Roman geschrieben: Wunderdinge jenseits von Thule, oft auch kurz Apista genannt. Über den Autor weiß man nichts weiter, und auch der Roman selbst ist nicht erhalten. Es gibt allerdings Zitate und Erwähnungen in anderen antiken Werken.
So weiß man, dass in der Apista ein Kasten mit Zypressentafeln aufgefunden wird. Er trägt laut Wikipedia die Aufschrift „Fremder, wer immer du seist, öffne, um aus den Wundern zu lernen.“ Das ist, meine ich, nah genug dran. Für das Utopion/Trollland-Motto hat Cory es nur ein wenig anders übersetzt.
Auf den Tafeln in der Kiste steht dann der Text mit dem Haupterzählstrang der Apista. (Welche Handlung wiederum im Zentrum von Corys Doppelroman steht, bliebe zu diskutieren.)
Die Frage, die mich viel eher umtreibt, ist die: Gibt es Parallelen zwischen der Apista und Corys Utopie-Roman? Was könnte Cory damit bezwecken, die Aufschrift auf dem Wunderdinge-Kasten den beiden Komplementärromanen voranzustellen?
Jedenfalls eine aufregende Entdeckung! Sofort habe ich zusammengesucht, was über den verschollenen Roman bekannt ist. (Die an die zwei Jahrtausende alte Apista wird als „antiker Roman“ gezählt, eine eigene literarische Gattung, die sich vom „modernen Roman“ in einigen Punkten unterscheidet. Und was diesen angeht, Leser dieses Blogs haben im letzten Blog-Eintrag davon lesen können: Als erster moderner Roman wird manchmal die fast tausend Jahre alte (japanische) Geschichte vom Prinzen Genji angesehen.)
Nun aber zur Apista! Im Folgenden beziehe ich mich auf den Versuch einer Rekonstruktion durch Ondřej Cikán, der die Wunderdinge jenseits von Thule als „Musterbeispiel der antiken Romandichtung“ sieht: „Der typische altgriechische Roman ist nämlich ein Abenteuer-, Reise- und Liebesroman zugleich.“ (Aha. Schon eine erste Parallele!)
Tatsächlich geben die überlieferten Fragmente noch weitere Aspekte her, welche die Apista und Utopion/Trollland gemeinsam haben:
- Beide Romane erzählen mehrere Geschichten und sind ineinander verschachtelt.
- Verbindendes Element der „antiken Romane“: Die Treue eines Liebespaars wird im Verlauf der Handlung auf die Probe gestellt – und am Ende werden sie wieder glücklich vereint sein. Das lässt sich auch von Fabrizius und Apollonia in Trollland sagen. (Trollland wiederum wird von einem Historiker verfasst, der solche antiken Romane und damit auch die Apista-Fragmente durchaus kennen könnte.)
- Die Apista behauptet einen gewissen Wahrheitsanspruch, gestützt durch Zitate zahlreicher Gewährsleute – ähnlich wie auch in Utopion Zitate finden, sei es nun die als eigenes Kapitel mit abgedruckte Nahtoderfahrung von Utopion-Initiator Christopher Foskett oder die bissigen Kommentare von Crowdfunding-Sponsoren.
- Protagonisten der Apista reisen zum Mond. (Historiker Ralf Kaska erwähnt und zitiert eine solche Mondreise in Utopion.)
- In beiden Werken wird von einem Doppeltraum berichtet – einem Traum, den sich zwei Menschen teilen.
- Antonius Diogenes wendet, was seine verschiedenen Erzählebenen betrifft, vielfach die Technik der Spiegelung an. Desgleichen spiegeln sich Geschehnisse und Figuren zwischen Utopion und Trollland, nicht zuletzt das große Thema der drohenden feindlichen (kommerziellen) Übernahme einer Idee, die eigentlich allen zugutekommen sollte.
- Die Wikipedia fragt in Bezug auf die Apista: „Handelt es sich um Unterhaltungsliteratur, in die, um auch beim gebildeten Publikum Interesse zu wecken, Gelehrsames und Religiöses mit eingewoben wurden, oder handelt es sich umgekehrt um einen Mysterienroman, der nur an der Oberfläche als triviale Reise- und Liebesgeschichte erscheint?“
- In der Apista treten historische Figuren auf – in Utopion tritt immerhin Thomas Morus auf, wenn auch nur als „Avatar“ in einer virtuellen Umgebung.
Es gibt also durchaus Parallen. Auch einige nicht-triviale.
Doch insgesamt bleiben sie „fragmentarisch“ und ergeben in meinen Augen kein zusammenhängendes Ganzes – wie ja auch die Apista selbst nur in Form von Bruchstücken vorliegt. (In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass eine vielversprechende Spur ins Leere verlief: Apollonia trägt einen Namen griechischen Ursprungs – Apollon, Gott der Künste, spielt in der Apista jedoch anscheinend keine tragende Rolle.)
Letztlich sind die „Wunder jenseits von Thule“ nach allem, was ich herausfinden konnte, ganz andere als die von Trollland. Die Helden von Antonius Diogenes reisen durch die gesamte damals bekannte Welt und weiter. Doch Trolle kommen nicht vor.
Womöglich soll uns das Motto, das Cory dem Doppelroman voranstellt, nur ganz schlicht dazu auffordern, uns von einer wunderbaren Utopie (ohne Gewalt und Krieg, Müll und Umweltzerstörung, Werbung und Konsumwahn, Gier und Geld) inspirieren zu lassen – auch wenn es in diesem Fall kein Kasten, sondern ein Buch ist: „Fremder, wer du auch bist, öffne es, auf dass dich die Wunder bereichern mögen.“